Unsere Familie

Früher hatte es Spass gemacht, mit meinem Bruder auf ein (oder zwei oder drei…) Bier zu gehen. Neben vielem Philosophischen gab es immer auch viel zu lachen. Seit dem Tod unserer Schwester allerdings bleibt das Lachen meist aus. Dafür versuche ich ihm Mal für Mal seine Schuldgefühle auszureden. Bis heute erfolglos. Natürlich kann man sich auf den Standpunkt stellen, dass er sie provoziert hat und hätte er dies nicht getan, wäre alles so nicht passiert. Würde sich unsere Schwester allerdings nicht immer so kompromisslos einer Idee verschreiben, hätte das Ganze trotzdem kein so böses Ende genommen.

Eigentlich hätte man erwarten dürfen, dass sie nach einem Gewichtsverlust von dreissig Kilogramm einsehen würde, dass Energie nicht gleich Energie ist. Nur schon aufgrund ihrer medizinischen Ausbildung hätte man eigentlich erwarten können, dass sie versteht, dass die postulierten Energien in homöopathischen Arzneimitteln nicht das Gleiche sind, wie die Energie, die ein Körper benötigt, um zu leben.

Ich sage ihm immer wieder, er könne sich keinen Vorwurf machen, da doch Provokationen dieser Art in unserer Familie eigentlich zur Routine gehörten. Und insbesondere waren die unterschiedlichen Auffassungen im Bezug auf die Wirksamkeit der Homöopathie schon mehrfach Anlass zu lebhaften Diskussionen gewesen.

In dieser Hinsicht darf man meinem Bruder eine gewisse Genialität auch nicht absprechen. Indem er versuchte, die Verbindung zwischen Energie und Ernährung herzustellen, wollte er die Absurdität einer homöopathischen Energieübertragung vorführen. Nur hatte er nicht mit der Verbohrtheit unserer Schwester gerechnet. Auf seine Provokation: “Homöopathische Energieübertragung ist ein Witz oder hast Du schon mal von jemandem gehört, der sich durch homöopathische Energieübertragung ernähren konnte?” Hat sie nämlich prompt geantwortet: “Ich werde es Euch beweisen!”

Der Gewichtsverlust unserer Schwester war zwar allen aufgefallen, wenn man sie aber darauf ansprach, wich sie einer Antwort aus. Wir dachten daher, dass sie mit einer Krankheit zu kämpfen hatte, über die sie (noch) nicht sprechen mochte. Erst als wir nach ihrem Tod ihre Wohnung räumten, erfassten wir die eigentliche Tragödie.

Auf den ersten Blick konnten wir nichts Aussergewöhnliches in ihrer Wohnung feststellen. Ausser dass es schien, als habe sie wohl aufgrund ihrer Schwäche seit Wochen ihr Bettzeug nicht gewechselt, schien alles normal. Beim genaueren Hinschauen fiel aber eine Aufreihung von sechs Gefässen unterschiedlicher Grösse auf dem Küchentisch auf, welche zu unterschiedlichem Grad mit Flüssigkeit gefüllt waren. Daneben stand ein Massbecher. Im ersten Moment konnten wir diese Topfreihe nicht einordnen, aber nach und nach dämmerte uns, was es damit auf sich haben musste. Ich glaube, es war meine Frau, die realisierte, dass es sich dabei um Potenzierstufen handelte, mit der meine Schwester Flüssignahrung potenziert hatte. Offensichtlich hatte sie ausser dieser potenzierten Flüssignahrung nichts zu sich genommen, denn bis auf fünf Dosen Flüssignahrung war ihr Kühlschrank leer.

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