Statistik der Langeweile

Als Marc in die Kantine kommt, freut er sich, Severin zu sehen. Die meisten Kollegen halten sich an die Vorgabe und sprechen nicht über Einzelheiten ihrer Überwachungsarbeit. Aber Severin ist einer der wenigen Kollegen, mit denen man sich offen austauschen kann.

Marc: Und, heute schon etwas Erzählenswertes gesehen?

Severin: Nö, bis jetzt nicht. Bin aber auch nicht auf meiner Lieblingsschicht.

Marc: Stimmt, Tagesschichten sind selten wirklich spannend. Man müsste für die verschiedenen Schichten mal ne Statistik der Langeweile erheben, vielleicht würden Tagesschichten danach besser bezahlt.

Severin: Da ist was dran. Das Aufregendste heute war der kleine Bengel in der Überwachungseinheit A301.27B. Die Nanny wollte ihr den Mittagsbrei füttern, als das Telefon klingelte. Und bis die Nanny das Telefon gefunden hatte, hatte die Kleine bereits das ganz Esszimmer bespritz mit dem Brei. Die Nanny muss sie danach ziemlich angeschrieen haben.

Marc: Handgreiflichkeiten?

Severin: Nein. Sie liess die Kleine im Raum auf ihrem Hochsitz ausser Reichweite jeglicher Gegenstände zuschauen, wie sie die Sauerei wegwischte. Obwohl die Kleine anfänglich wohl geplärrt hat, kann man der Nanny Gewaltanwendung nicht vorwerfen.

Marc: Ehrlich gesagt, finde ich, wird in letzter Zeit viel zu schnell ein Fall von Gewaltanwendung konstruiert. Ich habe bei gewissen Kollegen den Eindruck, dass sie bereits beim Erheben des Drohfingers eine logische Vorstufe zur Gewaltanwendung sehen wollen, wo es einzuschreiten gilt.

Severin: Ist zum Teil ja auch verständlich. Im Moment werden die öffentlich geäusserten, kritischen Stimmen zu unserer Behörde noch als Kuriosum behandelt, aber die öffentliche Meinung kann manchmal schnell kippen.

Marc: Auch der laufende Abdeckerprozess hilft hier nicht gerade. Ehrlich gesagt, muss man sich schon fragen, woher die das Geld haben, den Fall bis vor internationale Gerichte weiterzuziehen.

Severin: Vielleicht bin ich naiv, aber um unsere Behörde mach ich mir wenig Sorgen. Seit die Wohnbereichsüberwachung eingeführt wurde, wurden 98% weniger Fälle von häuslicher Gewalt und Kindsmissbrauch registriert. Und vergiss nicht, die allgemeine Zustimmung für die Einführung war so hoch wie bei keinem anderen Gesetz davor.

Marc: Ich hoffe, Du hast recht.

Severin: Glaub mir, die grösste Gefahr für unseren Job droht nicht aus der Politik oder der Öffentlichkeit. Die grösste Gefahr droht von Software-Agenten.

Marc: Du meinst Computerprogramme, die unsere Überwachungsfunktion übernehmen?

Severin: Genau!

Marc: Da hab ich jetzt wenig Bedenken, dass es je soweit kommt. Ich denke, es ist eines, automatisch die Geschwindigkeit eines Fahrzeuges zu bestimmen und dann beim Überschreiten einer Limite automatisch ein Photo zu schiessen. Aber mir scheint es etwas ganz anderes, Akte häuslicher Gewalt zu erkennen. Stell Dir nur mal vor, wie soll ein Softwareagent zwischen echter Gewalt und SM Spielen unterscheiden? Deine Lieblingseinheit C811.X13 würde dauernd Fehlalarme auslösen. < Lacht >

Severin: Vielleicht würde man den Überwachungsprozess so gestalten, dass Softwareagenten zweifelhafte Sequenzen einem menschlichen Agenten zur Beurteilung vorlegen würden. So würde es zwar immer noch menschliche Agenten brauchen, aber eben viel weniger.

Marc: Das hätte doch auch was Positives. Für diejenigen, welche dann noch im Dienst wären. Man würde dann nur noch die „heissen“ Sequenzen anschauen müssen. Kein Zappen mehr durch leere Räume oder langweilige Game-Abende – nur noch Unterhaltung pur! Ehrlich gesagt, wäre das doch eine Aufwertung unseres Berufes, oder?

Severin: Ja, toll! Aber ich sage Dir, eine Reduktion der Agentenzahl wäre gar nicht spassig. Der Verdrängungskampf würde hässlich.

Marc: Lass uns also hoffen, dass es nicht so weit kommt.

Severin: Ja, lass uns hoffen. Vorerst hoffe ich, dass mir meine Schicht noch etwas Spannendes zu bieten hat. Die Chancen stehen gut. Mittwochs schaut bei der Tusse von K047.D81 meist der Personal Trainer vorbei.

Marc: Ist das der, der sich in ein Hasenkostüm kleiden muss, ihr mit der Nase die Muschi massiert und dafür eine Karotte bekommt?

Severin: Nein, das ist die aus der Einheit K049.C14. Ich muss wieder los. Ich erzähle dir nächstes Mal was in der K047.D81 so abgeht.

Marc: Na dann mal viel Spass. Bis zum nächsten Mal.

Severin: Bis zum nächsten Mal.

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