Lehrgeld

Ich sitze auf der Burgmauer und schaue auf die Stadt hinunter. Die Mauer mag wohl an die 15 m hoch sein und ich frage mich, ob man wohl augenblicklich tot sein würde, wenn man unten aufschlägt. Von hier oben kann ich die Uferpromenade sehen. Die Stelle, an der Laura diesen anderen Typen geküsst hat oder vielleicht noch immer küsst, wird von der Kirche verdeckt. Und das ist wohl gut so.

Dabei hatte ich geglaubt, wir seien ein Paar. Ich weiss noch genau, wie alles anfing. Schon seit unserem Eintritt ins Gymnasium hingen Mathematik und die Naturwissenschaften wie Damoklesschwerter über Lauras Promotion. So bat sie mich vor einer entscheidenden Mathematikprüfung, ihr doch bei der Vorbereitung zu helfen. So brachte ich zwei oder drei Nachmittage zu, mit ihr trigonometrische Identitäten zu büffeln. Ich glaube, einmal liess ich dafür sogar mein Tischtennistraining sausen. Tatsächlich schrieb sie in dieser Prüfung eine zwei, was ihr zu einer genügenden Semesternote verhalf.

Bis da hatte ich sie nicht wirklich wahrgenommen. Nicht weil sie nicht attraktiv gewesen wäre. Vielmehr, weil sie irgendwie gar nicht zur Klasse gehörte. Sie erschien zwar täglich sehr pünktlich zum Unterricht, aber davor oder danach interagierte sie kaum mit jemandem in der Klasse. Damit war sie kaum wahrnehmbar – unnahbar. Gelegentlich fiel sie durch sehr dezidierte Äusserungen während des Unterrichts auf. Während einer Geschichtsstunde zum Thema der Nordamerikanischen Ureinwohner, erzählte uns der Lehrer die Geschichte des Häuptlings  Wakatame der gesagt hatte, lieber sterbe er, als dass er in einem Reservat leben wolle. Als ihre Banknachbarin bei dieser Geschichte den Kopf schüttelte, fauchte sie sie an, so dass sich die ganze Klasse umdrehte, es sei alle mal besser tot als unfrei zu sein. Später erzählte sie mir, dass es unter ihren Vorfahren Zigeuner gab.

Am Tag, als sie die Prüfung zurückerhielt, kam sie nach der Stunde strahlend auf mich zu und meinte, wir seien ein tolles Team. Ich denke, ich verstand nicht wirklich, was sie damit meinte, aber ich interpretierte es dahingehend, dass sie mich mochte. Und ich stimmte ihr zu. Von da an verbrachten wir viel gemeinsame Zeit über Mathematikaufgaben.

Der Typ musste älter sein, als wir, denn neben ihnen stand ein Motorrad. Er musste also bereits achtzehn gewesen sein. Wahrscheinlich hätte es ja schon vorher genügend Anzeichen gegeben, nur wollte ich sie wohl nicht wahrnehmen. Meist sassen wir beim Büffeln am Ecktisch des grossen Aufenthaltsraums im zweiten Stock des Praktikumsgebäudes. Wir sassen auf der Bank an der Wand nebeneinander. Unsere Oberschenkel berührten sich fast immer und nicht ganz zufällig berührten sich auch unsere Hände, wenn wir uns jeweils gegenseitig auf Textstellen oder Grafiken hinwiesen. Aber immer, wenn ich versuchte, sie zu küssen, winkte sie ab. Sie sei nicht bereit dazu, sie sei noch zu jung, sie hätte Angst dass ihre Eltern davon erführen und die hätten keine Freude daran, sie wolle damit noch warten.

Nun sitze ich immer noch auf der Mauer. Den Mut, runter zu springen, finde ich trotzdem nicht. Meinen Tod würde sie wohl kaum wahrnehmen. Es gibt ja noch andere Jungs, die gut sind in Mathe. Warum soll ich also springen?

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