Kommissar Weder

Wenn Stefan nach dem skurrilsten Fall seiner Ermittlerkarriere gefragt wird, so kann er einige nennen. Je nach Erzähllust fällt seine Wahl dann auf den einen oder anderen Fall. Was genau den Ausschlag zur Wahl der einen oder eben der anderen Geschichte gibt, weiss Stefan nicht so genau. Sicher aber ist, dass in der Vorweihnachtszeit seine Wahl besonders häufig auf den zu Tode gefolterten Nikolaus fällt. Obwohl der Fall bis heute ungelöst bleibt, glaubt Stefan zwar nicht die verantwortlichen Personen, so doch deren Motiv und den Tathergang gut zu verstehen. 

Der Mord fällt in jene Zeit, in der sehr heftig und emotional über Sozialhilfemissbrauch diskutiert, respektive öffentlich multimedial gestritten wurde. Man war sich im Allgemeinen einig, dass Sozialhilfebetrug nicht akzeptiert werden darf. Man war sich aber weniger einig, wie weitverbreitet dieser war und noch weniger wie ihm zu begegnen sei. Gewisse Gemeinden – meist die Städte – setzten eigens dafür rekrutierte und ausgebildete Sozialhilfebetrugsdetektive ein, in anderen Gemeinden – oft in ländlichen Gebieten – nahmen sich bürgerwehrähnliche Organisationen der Aufgabe, Sozialhilfebetrüger aufzuspüren und anzuzeigen, an. 

Der Mord trug sich in einer dieser ländlichen Gemeinden zu. In diesen ländlichen Gegenden wurde zu der Zeit auch noch die Tradition des St. Nikolaus gepflegt. Speziell zu diesem Zweck gegründete Vereine verkleideten einige Ihrer Mitglieder als heilige Nikolause, welche die Kinder zuhause besuchten, ihnen Lob und Tadel in die gute Stube brachten und sie zum Abschluss mit Leckereien wie Nüssen, Lebkuchen, Mandarinen, Schokolade beschenkten. Bei dieser Aufgabe – Kraft seines Amtes so zu sagen – gewann St. Nikolaus zwangsläufig einen sehr intimen Einblick in die guten Stuben. 

Stefans Vermutung geht nun dahin, dass dieser unglückliche Nikolausdarsteller von Sozialhilfebetrugsbürgerwehrmitgliedern gefangen genommen und im Keller des leerstehenden Hauses, wo er später tot aufgefunden wurde, verschleppt wurde. Das Ziel der Aktion wäre demnach gewesen, dem Nikolaus durch Einschüchterung Details zur Wohnsituation von Familien zu entlocken, die Sozialhilfe beziehen und daraus Hinweise zu bekommen, ob allenfalls nicht doch ein nicht deklariertes, schwarzes Einkommen vorhanden sein könnte. Ein teures Mountainbike oder ein neuer Flachbildschirm könnten solche Anzeichen sein. 

Stefan geht davon aus, dass die Amateure etwas ungeschickt vorgegangen waren bei der Einschüchterung des armen Nikolaus und ihn aus Versehen getötet hatten, in dem sie ihm eine Plastiktüte über den Kopf gestülpt hatten und mangels professioneller Folterausbildung zu lange warteten, bis sie diese wieder entfernten. Etwas weniger wahrscheinlich erscheint Stefan, dass der Nikolausdarsteller seine Peiniger erkannt hatte und diese ihn deshalb zum Schweigen bringen mussten. Obwohl, ausschliessen möchte er diesen Tathergang nicht. Der Nikolausdarsteller war in der Gemeinde gut vernetzt und dass er seine Peiniger kannte, ist sehr wohl möglich. 

Frustrierend ist ohne Frage, dass dies einer seiner wenigen ungelösten Fälle ist. Sozialbetrugsbürgerwehren waren keine regulären Vereine, sondern Schattenorganisationen mit losen Strukturen, deren Mitglieder niemand kannte. Es gab Vermutungen darüber, wer wohl dazu gehören könnte und diesen Spuren ging Stefan auch nach, aber vergeblich. Am Tatort liessen sich auch keine verwertbaren Spuren finden. Auch das passt in Stefans Schema einer versehentlichen Tötung. Der tödliche Fehler muss den Bürgerwehrlern kurz nach der Verschleppung passiert sein, so dass sie bei aller Dummheit schlicht nicht genug Zeit hatten, Spuren zu hinterlassen. Diese Vermutung wird auch durch die Gerichtsmedizin, die den Tod durch Ersticken noch auf den 6. Dezember datiert, erhärtet.  

Letztlich glaubt Stefan, dass der tote Nikolaus, den Bürgerwehrlern gewaltig einfuhr. Auf jeden Fall, kam es in der Gegend nach dieser Aktion mit tödlicher Nebenwirkung zu keinen anonymen Anzeigen wegen Sozialbetrug mehr.  

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