Weltzeit

Es ist gewöhnungsbedürftig, wenn man reist und der Tag überall zu einer anderen Zeit beginnt. Bei Reisen innerhalb Europas fällt einem dies ja nicht wirklich auf. Dass man in London das Mittagessen erst um sieben Uhr einnimmt und in Zentraleuropa bereits um sechs, kann man leicht als britische Eigenheit auffassen. Das der Tag in Singapur aber um 1800 beginnt, mutet doch eher exotisch an. Um zu verstehen, warum dies so ist, muss man in der Geschichte zurückgehen in die Zeit, als die Vereinigten Staaten von Amerika die mächtigste Nation der Welt waren.

Am Anfang stand ein scheinbar unbedeutender, scheinbar idiotischer Rechtsfall. Zu der Zeit war die Erde ungefähr entlang den Längengraden in Zeitzonen eingeteilt. So begann ein Tag auf der ganzen Welt um Mitternacht und endete 24 Stunden später ebenfalls um Mitternacht. Das hatte zur Folge, dass Uhren bei der Reise über Zeitzonen hinweg umgestellt werden mussten. Flog man zum Beispiel von Wien nach London, so musste die Uhr um eine Stunde zurückgestellt werden. Das konnte bei häufigem Reisen über Zeitzonen hinweg zu einer Herausforderung werden. So auch für Dr. Chuck Bornheim, der von Manchester nach New York reiste, wo er Linda Mortensen unter Vertrag nehmen wollte. Linda war überraschend, fast über Nacht, zu einem internationalen Star avanciert und Dr. Bornheim hoffte, seinem Verlag mit Linda neuen Schwung verleihen zu können.

Da keine direkte Flugverbindung bestand zwischen Manchester und New York, flog Dr. Bornheim mit der Lufthansa – einem Code-Share-Flug der United Airlines – von Manchester nach Frankfurt und plante dann von Frankfurt nach New York – ebenfalls einem Code-Share-Flug der United – weiterzufliegen. Dr. Bornheim war Vielflieger, aber zum einen war es eine ungewohnte Flugroute (normalerweise flog er über London) und zum Anderen befand sich seine Firma in einem Urheberrechtsstreit mit einer jungen Band, die Cover-Versionen von Künstlern, die beim Verlag von Dr. Bornheim unter Vertrage standen, über ihre Homepage gratis zum Download anbot. Den Transfer in Frankfurt nutzte er daher für ein längeres Gespräch mit dem Anwalt seiner Firma, um die nächsten rechtlichen Schritte zu erörtern. So kam es, dass Dr. Bornheim, der Zeitdifferenz zwischen Manchester und Frankfurt nicht gewähr, seinen Flug von Frankfurt nach New York verpasste. Wie gesagt, normalerweise flog Dr. Bornheim via London, welches damals in der gleichen Zeitzone lag wie Manchester.

Dr. Bornheim nahm zwar die nächst mögliche Maschine von Frankfurt nach New York und liess über sein Büro Linda über seine Verspätung unterrichten und sie um Entschuldigung bitten. Genützt hat es allerdings nichts. Linda fühlte sich nicht ernst genommen und entschied sich umgehend, beim Label, das ihr Debutalbum herausgebracht hatte, zu bleiben. Den Verlust, der aus dieser entgangenen Möglichkeit entstand, schätzte Dr. Bornheim auf einen zweistelligen Millionenbetrag, was für seinen angeschlagenen Verlag einer Katastrophe gleichkam.

In den ersten Stunden nach dieser Niederlage, war Dr. Bornheim frustriert und ärgerte sich über diesen Anfängerfehler. Nach einiger Zeit schwenkte der Ärger aber von sich auf die United. Denn wenn man’s sich genau überlegte, so hat die Fluggesellschaft ihm einen Flug von Manchester nach New York verkauft. Dass sie diesen Flug nicht direkt und nicht selber ausführen will, sondern dass er an einem Flughafen einer anderen Zeitzone das Flugzeug wechseln musste, konnte ja nicht sein Problem sein. Entsprechend beauftragte er die US Anwaltskanzlei Kohl & McGregor, welche auf Haftungsklagen aus Dienstleistungsverträgen spezialisiert war, den entstandenen Verlust bei der United einzuklagen. Das Gericht gab Dr. Bornheims Klage recht. Das Argument war, wenn eine Fluggesellschaft Flüge von A nach B verkauft, sie für alle Risiken, welche dem Kunden aus Transfers entstehen haftet.

Nach diesem wegweisenden Entscheid, nahmen derartige Klagen rasant zu. Anfänglich beschränkten sich die Klagen auf Flüge in die und von den USA. Aber mit der üblichen Verzögerung, mit der amerikanische Errungenschaften sich im Rest der Welt auszubreiten pflegten, kam es auch in anderen Ländern zu ähnlichen Klagen. Die Fluggesellschaften begannen daraufhin in Zusammenarbeit mit den Flughäfen spezielle sogenannte Zeitzonen-Lounges einzurichten. Transferpassagieren wurden dann die Lounges so zugewiesen, dass die Zeit in der Zeitzonen-Lounge gleich war, wie die Zeit in der Zeitzone ihres Abflugortes.

Rückblickend ist es klar, dass dies das Problem nicht lösen, sondern nur verschlimmern konnte. Denn immer öfter vielen Telefonkonferenzen ins Wasser, weil die Teilnehmer nicht wussten, in welcher Zeitzone sich ihre gewünschten Gesprächspartner gerade aufhielten. Als grösste Wirtschaftsmacht der damaligen Zeit, sahen sich die USA am stärksten betroffen von dieser Misere. Und als Antwort darauf führten sie unilateral die Bedingung ein, dass Länder, die Flugverbindungen in die USA unterhalten wollten, in die amerikanische EST-Zeitzone zu wechseln haben und sie führten auch USA-weit diese Zeit ein. Anfänglich hagelte es international heftige Proteste, aber als Amerika nicht nachgab, wechselte die internationale Gemeinschaft innerhalb von wenigen Wochen zur amerikanischen EST, welche dann auch den Namen Weltzeit erhielt.

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