Der Honigtopf

Kennen Sie diese kleinen Marmeladegläschen, die man in vielen Hotels auf dem Tisch oder am Frühstücksbuffet findet? Was wählen Sie? Treffen Sie auch immer die gleiche Wahl? Vielleicht haben Sie sich diese Frage gar noch nicht gestellt. Ehrlich gesagt, hat mich diese Frage bis vor einer Woche auch nicht beschäftigt, aber bei meinem letzten Aufenthalt in Dublin realisierte ich, dass ich immer das Gläschen mit dem Honig wähle und ich begann mich zu fragen, warum?

Die einzige plausible Erklärung konnte ich in einer fast rituellen Dynamik aus meiner Kindheit finden. Meine Mutter war eine leidenschaftliche Köchin und eines ihrer Spezialgebiete waren Marmeladen. Sie verarbeitete fast alles zu Marmeladen: Pfirsiche, Aprikosen, Himbeeren, Erdbeeren, Rhabarber, Quitten oder Tomaten. Und ihre Marmeladen waren vorzüglich.

Eine gewisse Naturverbundenheit lag also möglicherweise in der Familie und so war einer unserer Onkel Imker. Einmal im Jahr immer zu Ostern schenkte er unserer Familie ein grosses Glas Honig. Es dauerte dann jeweils ziemlich genau zwei Wochen, bis das Honigglas leer war.

Meine Schwester und ich hätten den Raubbau am Honigglas gerne hinausgezögert, indem wir zum Beispiel nur jeden zweiten Tag Honig und jeden anderen Tag Marmelade aufs Brot gestrichen hätten. Unser kleiner Bruder machte dabei aber nicht mit. Ihm schmecke Marmelade nun mal nicht und er wolle sich von uns nicht vorschreiben lassen, wann er Honig essen dürfe und wann nicht. Als Antwort auf unseren Einwand, dass er ja während dem Rest des Jahres auch Marmelade esse, ging er so weit, gänzlich auf Marmelade zu verzichten, um zu demonstrieren, dass diese ihm eben nicht schmeckt.

Und so blieb uns Jahr für Jahr nichts anderes übrig, als mitzuspielen und täglich dafür zu sorgen, sich den fairen Anteil am Honigtopf zu sichern bis das Glas leer war.

Leave a Reply

Your email address will not be published. Required fields are marked *